Wenn ich als Märchenerzählerin unterwegs bin, höre ich mittlerweile regelmäßig von Eltern oder sogar Großeltern: „Märchen sind nur etwas für Kinder“ oder „Märchen sind heute nicht mehr zeitgemäß“. Manche geben sogar zu, dass sie ihren Kindern zu Hause gar keine Märchen mehr erzählen. Frage ich, warum, dann kommt häufig auch noch das Argument: „Märchen sind viel zu grausam!“
Ich finde es sehr schade, wenn Märchen nicht mehr erzählt werden, denn damit nutzen wir eine unserer wichtigsten Fähigkeiten zur Selbstermächtigung, eine Gabe, die uns als Menschen vom Tier unterscheidet … nicht! So groß? Ja, so groß ist das Potenzial von überlieferter Erzählkultur!
Was sind Märchen eigentlich?
„Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun?
Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch.“
(Erich Kästner)
Stelle dir vor, es gebe ein Zaubermittel, mit dem ein Kind, ein junger und ein älterer Mensch stillsitzen und aufmerksam zuhören können. Gleichzeitig fördert dieses Mittel ihre Phantasie, erweitert ihren Sprachschatz und befähigt sie darüber hinaus auch noch, dass sie sich viel besser in andere Menschen hineinversetzen und deren Gefühle besser verstehen können. Oh, und dieses eine Zaubermittel stärkt dann auch noch ihr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und lässt sie mit Mut und Zuversicht in die Zukunft schauen. Dieses Zaubermittel heißt – tadaaa – Märchen. Und zwar Märchen, die wir uns erzählen oder vorlesen. Man kann auch sagen, dass Märchenstunden die höchste Form des Unterrichtens sind.
Viele Seniorinnen und Senioren sind ebenfalls begeisterte Märchenfans. In vielen Kulturen steht das Erzählen von Märchen noch immer an wichtiger Stelle. Und in der Psychoanalyse spielen Märchen eine tragende Rolle.
Wie viele theorielastige Coachings zum sozialen Miteinander könnte man sich sparen, wenn man nur regelmäßig Märchen hört oder liest!
Wollen wir so ein mächtiges Instrument wirklich unseren Nachkommen vorenthalten?
Von denen, die erst keine Märchen hören wollten und dann doch …
Ich habe es selbst erlebt, wie zwei coole Buben im Alter von 7 und 9 Jahren zu Märchenfans wurden. Sie kommen mittlerweile zu jeder meiner Veranstaltung. Ich liebe die beiden. Sie sind mittlerweile 10 und 12 Jahre alt und sie hängen bei jedem Märchennachmittag an meinen Lippen. Sie warten, bis ich etwas frage und dann legen sie los.
Das klingt unglaublich? Finde ich nicht! Was ich sie beim ersten Mal gefragt habe, weiß ich gar nicht mehr so genau. Aber ich konnte ihnen nachfühlen, wie es ihnen damals ging. Als sie das erste Mal beim Märchenerzählen dabei waren, war das nicht freiwillig gewesen. Ihre Eltern hatten sie geschickt. Sie sollten dort bleiben und Ruhe geben. Sie taten mir ein bisschen leid. Und ich? Ich wollte einfach wissen: Kann man 12-jährige Kids heute noch für Märchen begeistern?
Ich fragte sie, was sie hören wollten. Etwas Gruseliges? Oder etwas Witziges, total Blödsinniges? Ja, sagten sie. Genau so etwas! Ich glaube, sie fühlten sich endlich ernst genommen. Das wollen wir doch alle, oder?
Welche Märchen ich damals erzählte:
- Von Einem, der auszog, das Fürchten zu lernen. – Ein gruseliges Märchen in der Sammlung der Brüder Grimm.
- Wie der Elefant seinen Rüssel bekam. Ein wunderbar skurriles Tiermärchen.
Von der Oma, die ein Märchen zu grausam für ihren Enkel fand …
Einmal beim Märchenlesen wurde ich auf einer Oma aufmerksam, die ständig dazwischenrief. Zu grausam! Das kann man doch nicht erzählen! Neben ihr saß der Enkel und lauschte dem Märchen. Er hörte besonders intensiv zu, was ich an seinen Augen erkannte. Er blickte nämlich nicht konkret etwas im Raum an, sondern war schon in seiner Fantasiewelt angekommen. Aber die Oma holte ihn mit ihren Zwischenrufen ständig in die Wirklichkeit zurück. Irgendwann setzte er sich von Oma weg. War das Märchen zu grausam für ihn? Er sah nicht verängstigt, sondern vielmehr ziemlich zufrieden aus, als das Märchen zu Ende war. Märchen gehen immer gut aus. Es bleibt also nichts Offen, die Guten werden belohnt, die Bösen werden bestraft – und am Ende löst sich alles auf.
Was denn nun: Zu grausam oder nur für Kinder?
Die einen sagen (vorwiegend in Deutschland übrigens), dass Märchenstunden ja „nur“ für Kinder seien. Die anderen geben zu bedenken, dass die alten Geschichten viel zu grausam und daher für Kinder nicht geeignet seien. Beide Argumente finde ich etwas schräg und für mich bedeutet das, dass viele Menschen wahrscheinlich gar keine Märchen mehr kennen. Denn sonst wüssten sie, dass manch ein Film, den ihre Kleinen schauen, eine viel grausamere Handlung hat. Und das mit dem „nur für Kinder“ ist ebenfalls ein fataler Irrtum: Früher wurden Märchen für alle erzählt, am Kamin oder am Lagerfeuer, und das hatte o.g. didaktische Gründe.
In Deutschland hat sich die Erzählkultur leider im 19. Jahrhundert verändert. Nicht ganz unschuldig daran sind die Brüder Grimm, die ihre Sammlung überlieferter Geschichten einen prägenden Titel gab: Kinder- und Hausmärchen. Damit waren die Erwachsenen „raus“.
Vorausgesetzt der Erzähler erzählt alters- und situationsgerecht sind Märchen weder „zu grausam“ noch „nur für ein bestimmtes Alter“. Man kann überlieferte Geschichten für Kinder und Erwachsene erzählen, um Botschaften zu vermitteln, Emotionen anzuregen und bestimmte Verhaltensweisen zu fördern (Miteinander, Mut, Hilfsbereitschaft, Eigeninitiative, Respekt …). Und beim Hören eines Märchens kann man einfach eine wunderschöne Zeit verbringen.
Was können Märchen genau?
Seelen-Balsam
Märchen berühren heute noch etwas ganz tief in unserer Seele. Sie schaffen das trotz Dauerberieselung per Social-Media und Videospielen. Doch wie „triggern“ sie uns genau und was bringt das?
Wer ein Märchen schon kennt, bei dem werden alte Erinnerungen wach, nicht nur an die Geschichte selbst, sondern auch Erinnerungen daran, wie es damals war, als einem dieses Märchen zum in der Kindheit erzählt wurde. Dann kommt einem sofort die Atmosphäre von damals in den Kopf, das schöne Gefühl, die Erfahrung der intensiven Begegnung mit einem lieben Menschen. Mächen „triggern“ also gerade die frühen, emotional positiv bewerteten Erinnerungen. Daher stärken gerade Märchen auch uns Erwachsene auf besondere Weise. Nach einer Erzählstunde verschwinden oft innere Unruhe, Sorgen und Ängste. Es heißt ja auch: Märchen sind Balsam für die Seele!
Lern-Instrument
Aber nicht nur das, auch das Vermitteln wichtiger Verhaltensweisen, Werte und Überlebenstricks können Märchen besonders gut vermitteln: Lernen funktioniert bei Kindern und Erwachsenen bekanntlich immer dann am besonders gut, wenn es ein bisschen »unter die Haut geht«. Das heißt, wenn beim Lernen die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert werden und all jene Botenstoffe vermehrt gebildet und freigesetzt werden, die das Knüpfen neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen fördern. So einen optimalen Lernzustand erreichen wir mit dem Spielen (sich und die Welt spielerisch entdecken). Eine andere Möglichkeit, etwas über die Welt und das Leben zu erfahren, ist die Märchenstunde.
Situationsgerecht erzählen: Wenn wir es uns während des Erzählens gemütlich machen, zum Beispiel auf uns auf Kissen kuscheln, aneinander anschmiegen, eine Kerze anzünden oder das Erzählen anderweitig als Ritual durchführen, dann werden die emotionalen Zentren im Gehirn angesprochen, ohne gleich überzureagieren (Angst, Schrecken usw.). Daher ist auch das live Erzählen besser als selber zu lesen oder – geht gar nicht: ein Märchen als Video oder Podcast anstellen, um ein Kind zu beschäftigen.
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