Sexy Aussehen lässt das Hirn nicht schrumpfen! Über die Autorin Anaïs Nin

Die Autorin Anais Nin

Anlässlich des Weltfrauentags stelle ich heute die Autorin Anaïs Nin vor. Das ist mir ein großes Anliegen, denn „die Nin“ wird von der –  noch immer männlich dominierten – Literaturwissenschaft unterschätzt. Daher lehne ich mich im Titel zum Blogbeitrag dem kürzlichen Zitat von Tijen Onaran an: „Lippenstift lässt das Hirn nicht schrumpfen“. Als Muse von Henry Miller, als „nur“ Tagebuchschreiberin und was weiß ich, tut man(n) Anaïs Nin auch heute noch gerne ab, während ihre Leserinnen und weiblichen Fans zahlreich sind. Dabei ist es gerade das Tagebuch-Projekt der Autorin, das neben ihren Romanen und Geschichten randvoll mit Poesie und Ausdruckskraft gespickt ist und voller Experimentierfreude steckt. Was die Autorin mit den zwei Punkten auf dem „i“ (genannt „Trema“) heute noch so wertvoll für Literatur und Kunst macht? Hier kommt mein „Rant mit Lobhudelei“ für eine faszinierende, moderne, wegweisende Autorin und Frau.

Literaturwissenschaft ist (leider) noch immer sehr männlich geprägt. Daher wundert es nicht, wenn Werke von Autorinnen noch immer nicht so bekannt sind, wie die ihrer männlichen Kollegen. Glaubst du nicht? Dann frage dich selbst: Welche Autoren hast du in der Schule oder in Studium gelesen? Wie viele Frauen waren darunter? Anaïs Nin (1903-1977) wurde gleich aus mehreren Gründen „vergessen“. Anfang des 20. Jahrhunderts in Neuilly-sur-Seine / Paris geboren, wächst die Power-Frau multikulturell auf (Vater berühmter spanischer Komponist und Pianist, Mutter Dänin und Leiterin einer Pension). Nin steht seit frühester Jugend im künstlerischen und literarischen Leben und eben NICHT an Herd oder Kochtopf oder sitzt dekorativ auf einem Sofa. Sie diskutiert zusammen mit literarischen und künstlerischen Größen in Pariser Cafés oder in ihrem New Yorker Studio in Greenwich Village. Oft legt sie sich auch auf die Couch bei einem berühmten Psychiater, was damals in Amerika begann „in“ zu werden. Oftmals wird jedoch ihr Leben über das ihrer Literatur gestellt, was bei Künstlerinnen häufiger vorkommt als bei Künstlern. Vor allem männliche Literatur-Experten betrachten am liebsten ihr „wildes Leben“ als Frau zwischen zwei Ehemännern, zwischen vielen Beziehungen und ihre Psyche, die – ganz sicher – in Nins Kindheit gelitten hat. Außerdem gilt die Autorin für damalige und heutige Verhältnisse gleich von mehreren Gruppierungen als nicht gesellschaftsfähig. Wer von Bürgertum und der neu entstehenden Frauenbewegung sozusagen doppelt abgelehnt wird, hat es doppelt schwer?

Hmm… Wie sieht das mit den Herren Henry Miller,  Gustave Flaubert, James Joyce aus? Bei männlichen Autoren sehe ich nicht ein Privatleben, das im Vordergrund steht, sondern erst den Text und dann ein Privatleben das als mögliche Begründung für eine bestimmte Kunstform etc. genommen wird.

Nin ist Vorreiterin eines neuen literarischen Stils und sie äußerst sich häufig. Das haben interessanterweise ihre künstlerischen männlichen Zeitgenossen als wegweisend betrachtet. Dennoch stehen den vielen Leserinnen der Poesie von Anaïs Nin nur wenige Leser gegenüber. Ist die Autorin also noch zu wenig sichtbar für alle Menschen?

Der "Musen-Mist" stört die Wahrnehmung

Den Literaturkritikern des 20. Jahrhunderts, sagen wir mal bis in die 50er oder 60er Jahre hinein, war Anaïs Nin vorwiegend als „Muse von Henry Miller“ bekannt. Dass sie dem Autor nicht nur beim Schreiben mit Rat und Tat zur Seite stand, sondern – vielleicht sogar einige Zeilen seines Bestsellers „Im Wendekreis des Krebses“ verbessert hat, kann man zwar in ihren Tagebüchern nachlesen oder in der Sekundärliteratur über sie, aber nicht wirklich in der Sekundärliteratur über Henry Miller. Noch heute nicht! Mit ihrem Status als Muse von … steht Anaïs Nin nicht allein, aber dennoch: Warum? Lassen wir uns die Freundschaft der beiden Autoren doch mal andersherum betrachten.

Warum sind Musen weiblich? Wieso gilt Henry Miller nicht als Muser oder Muserich von Anaïs Nin? Denn er war es ja, der sie ermutigte, weiterzuschreiben. Er war ihr Muserich, wie Levin Schü­king es für Anette Droste Hülshof war oder Robert für seine Frau Clara Schumann (die definitiv begabtere in dieser Ehe). Noch heute kippt unsere Wahrnehmung in Richtung großer Künstlermänner anstatt zu den großen Künsterfrauen. Schuld ist dieser Musen-Mist!

 Lesetipp: Einen wunderbaren Artikel über “ Woher kommt eigentlich… Muse = Frau und Genie = Mann?“ hat Stefan Sell geschrieben.

Können sexy Frauen überhaupt literarisch wertvoll schreiben?

Der Frauenbewegung ist sie zu „unkämpferisch“, den Männern der 50er Jahre und danach ist sie zu „sexy“ für eine Intellektuelle … Ein modisches, weibliches Aussehen und eine fachliche Äußerung scheint auch heute noch von unserer Gesellschaft schwer zu verkraften zu sein. Intelligenz hinter Make-up und Minirock? Das lehnen auch heute noch viele Männer und (!) Frauen vehement ab. Jüngstes Beispiel ist, dass sich eine Menge Menschen darüber aufregen, warum Tijen Onaran, die sich für Female Empowerment und Diversität in der Wirtschaft einsetzt, den knallroten Lippenstift „Red Tijen“ bei Douglas promotet.

  Mehr Solidarität und Toleranz zwischen den Geschlechtern UND zwischen uns Frauen, wäre mehr als höchste Zeit! Starke Menschen sind nicht aufgrund ihres Geschlechtes stark.

Darf eine Intellektuelle sich gegen feministische Konventionen wenden?

Nins weiteres „Problem“ war, dass andere starke Frauen, wie Simone Beauvoir, sie für nicht intellektuell „wert“ genug gehalten haben. Mit Aussagen wie, Nin verkörperte genau diejenige Art von Weiblichkeit, die einer „die Haare zu Berge stehen“ lasse oder, „Ihre Meinung über die Weiblichkeit macht mich wütend“ (1972), macht Beauvoir ihren Standpunkt deutlich. Äußerungen wie diese haben Literaturkritiker damals unglaublich gerne aufgegriffen, statt einfach selbst „die Nin“ zu lesen.

  Merke: Zwist unter Frauen geht immer zum Nachteil für die Gleichberechtigung aus, auch heute noch. Das Gender Pay Gap lässt grüßen!

Warum ist das Privatleben einer Künstlerin immer noch wichtiger als eines Künstlers?

Dass Anaïs Nin gleichzeitig in zwei Ehen lebte (einmal an der Ostküste, einmal an der Westküste von Amerika), dass sie mehrere offene Beziehungen zu Männern und Frauen pflegte … all das hebt man heute noch in den Vordergrund. Ein „Ich-zentriertes Leben“ wirft man ihr vor, obwohl dieses Leben von Nin sicherlich eine Form von Sucht war. Bei all diesem Voyeurismus für Nins Leben und ihrer „Bekenntnisse“, wird ihr literarisches Schaffen schon mal in den Hintergrund gestellt. Schade!

  Apropos Ego-Autoren:  Was ist mit dem deutschen Ego-Autor schlechthin, Thomas Mann? Ein Autor als Ego = super, eine Autorin als Ego = pfui?. Auch im Literaturbetrieb wird mit zweierlei Maß gemessen.

Genug gemeckert, hier kommt Nin!

Erotische Literatur? Gab es zuvor nur von Männern und daher auch nur aus männlicher Sicht. Bahnbrechende Schreibstile? Gab es auch nur von Männern. Anaïs Nin ist die erste Autorin, die aus Sicht der Frau(en) schreibt.

„Was ich zu sagen habe unterscheidet sich von Kunst und Künstlertum. Es ist die Frau, die spricht. Und es ist nicht nur die Frau Anaïs, die zu sprechen beginnen muss, vielmehr habe ich für viele Frauen zu sprechen. (…) Ich fange an, die Frauen von gestern und heute zu verstehen. Die stummen Frauen der Vergangenheit, die sich wortlos hinter ihren unausgesprochenen Gefühlen verbergen, und die Frauen von heute, die ganz in der Aktion aufgehen und den Mann kopieren. Und dazwischen: ich…“

(Anaïs Nin: Tagebücher)

Spot an! – Bewegung mit Worten

Doch nicht nur das: Anaïs Nin schafft Bewegung mit Worten. „Spot an“ (ein kurzer Satz) und sofort wieder „Spot aus““ und Themawechsel. Diese Techniken finden wir in der modernen Literatur nach 45 wieder. Damals war das völlig neu, man experimentierte zusammen mit den Dada-Malern und den Surrealisten. Die Welt, wie man sie kannte, ging nach zwei Weltkriegen in die Brüche. Sätze und Formen wollte man zerhacken und zerstückeln. Anaïs Nin, finde ich, füllt diese harten Techniken mit wunderbarer Poesie. Aber – und das finde ich so schön – in einfachen Worten. Nicht so kompliziert wie ihre (männlichen) Autorenkollegen, nicht so „fäkal“ wie Henry Miller. Mit der neuen Technik schafft die Autorin einzigartige Bilder. 

Den ähnlichen Stil – nur mit anderen Themen – kann man in „Wendekreis des Krebses“ von Henry Miller lesen, dem Buch, Nin für ihren Freund und Kollegen lektoriert hat. Nur klingt bei Miller alles brutaler als bei Nin.

Neue literarische Themen

Moderner Erzählstile, wie der Gedankenstrom (Stream of Consciousness), Dada, Surrealimus und andere neue Techniken begeistern die Autoren und Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Anaïs Nin schreibt auch in diesen Stilen, um das Traumleben und das Unterbewusstsein auf Papier bringen. Ganz wie der „Rest der Künstler-Gang“ in Paris und New York, wo sich die Kunstszene in den 30er Jahren befindet. Doch Nin schreibt stets mit dem literarischen Blick einer Frau. Bei der Autorin stehen Themen, wie die Geburt oder menschliche Beziehungen im Vordergrund. Themen die von männlichen Künstlern weniger oder wenn, dann komplett anders verwendet werden.

Da schreibt also erstmals eine Frau zum Beispiel über einen (erlebten) Geburtsvorgang oder über Beziehungen. Das liest sich  anders. Weder verklärt als höchstes Glück, noch als „ganz normaler Vorgang“.

Erotika aus Sicht der Frau

Nin schreibt Pornos für Frauen! Die Geschichten in Das Delta der Venus sind eine Auftragsarbeit, denn die Autorin brauchte – wie ihre Kollegen auch – Geld und pornografische Geschichten wurden gut bezahlt. Der Auftraggeber  forderte „konzentrieren Sie sich auf den Sex“ und „lassen Sie den poetischen Firlefanz weg“. Nin baute heimliche Ironie in die Erzählungen ein, um die Sexualität zu karikieren, außerdem schrieb sie erotische Szenen aus Sicht der Frau, und diese weibliche Sicht auf die Erotik ist der Unterschied zu pornografischen Werken  von und für Männer. Bei Anais Nin spielt nicht nur das alleinige Schildern des sexuellen Aktes eine Rolle, sondern die Wechselwirkung mit dem Gefühl. Erotik und Liebe sind unmittelbar miteinander verbunden, so wie Mann und Frau beim Akt. 

  Fun-Fact: Kritiker der 30er Jahre fanden so gut wie alles von Nin „skandalös“, doch ihre Autorenkollegen, von Henry Miller bis Antonin Artaud, fanden ihre Innovationen super. Man hat sich gegenseitig unterstützt und gefeiert.

Wo kann ich Literatur von Anaïs Nin heute lesen?

Die Verfügbarkeit der Werke ist ein weiterer Skandal. Doch was mich richtig wurmt ist folgendes: Die Erotika von Anaïs Nin sind aktuell erhältlich, doch ihre anderen Werke hat es hart getroffen. Den wunderbaren Geschichtenband, Unter einer Glasglocke kann man momentan nur im Antiquariat erwerben. Ihre Tagebücher gibt es, aber die aktuellen Auflagen besitzen Cover (und Titel!), die man sich hätte schenken können. Nackte Frauenkörper, seufzende Gesichter … verweisen auf die erotische Seite ihrer Literatur. Meine DTV-Ausgabe von 1987 sieht da viel neutraler aus. Denn in den Tagebüchern steckt mehr als „nur“ erotische Literatur, vor allem: Philosophie, die Sicht der Frau auf Kunst, Literatur und Psychologie, die Tagebücher enthalten verschiedene Textsorten … Schaut euch die Links oben an, das findet man zu Zeit. Unfassbar!

Fazit: Auch mit fehlenden Neuauflagen oder einseitigen Covern nimmt man Autorinnen (und Autoren!) ihre Sichtbarkeit und schubbst sie in ein bestimmtes Genre, wo sie nicht hingehören. Mach einmal selbst Google- und  „Amazon-Checks“ : Einfach mal Anaïs Nin eingegeben, das kommt im März 2023 heraus. Unfassbar!

  Literatur „über“ Nin: In ihrem Buch Spy in the House of Anaïs Nin geht Kim Krizan auf die Autorin, Feministin und Visionärin in ihrem historischen Kontext ein. Sie schreibt nicht „über“ sondern von Nin und gibt uns damit ein besseres Bild der Autorin als viele andere Sekundärliteraturen (die du alle ganz vorne bei Amazon  & Co. findest). 

Zum Titelbild: Auf dem Foto des Blogartikels seht ihr mich während eines Vortrages über Anaïs Nin anlässlich des Weltfrauentages 2020.

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2 Kommentare zu „Sexy Aussehen lässt das Hirn nicht schrumpfen! Über die Autorin Anaïs Nin“

  1. Oh wow! Gerade habe ich Deinen Blogpost über Anais Nin gelesen. Ich LIEBE Anais Nin, sie hat mich unglaublich inspiriert, vielen Dank, dass Du dafür sorgst, dass sie nicht vergessen wird. Sie hat soviel zur Emanzipation der Frauen und ihrer Sexualität beigetragen und ihr Schreiben ist bis heute unterschätzt, als wäre ein literarisches Tagebuch keine Literatur! Nur weil vor allem Frauen die „kleinen Formen“, wie die Briefkorrespondenz (Rahel Varnhagen) oder das Tagebuch als ihr Genre wählten, ist es noch lange keine untergeordnete, „kleinere“ Form! Ein Hoch auf die Tagebuchschreiberinnen!

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