Unter einem „roten Faden“ verstehen wir eine Spur, einen Weg oder eine Richtlinie. Ein guter roter Faden im Storytelling führt dich leicht und fluffig durch den Text (oder Vortrag). Goethe erwähnt das Bild eines roten Fadens erstmals in seinem Roman „Wahlverwandschaften“ von 1808. Hier ist die Textstelle:
„Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, dass sie der Krone gehören.“ (Goethe, Wahlverwandschaften, Teil 2, Kapitel 2)
Aha. Etwas zieht sich durch etwas … Doch wieso ausgerechnet rot und nicht blau. Wieso ein Faden und kein Strick? Und was genau bedeutet ein roter Faden im Storytelling?
Woher stammt der rote Faden?
Goethe nutzt den roten Faden erstmals als sprachliches Bild. Doch der Faden als Hilfsmittel, um durch etwas zu führen, ist älter. Wer kennt folgende Geschichte? Ariadne gibt in der griechischen Mythologie dem Gott und Helden Theseus ein Knäuel mit, damit er sich nicht im Labyrinth von Knossos verirrt. Theseus spult den Faden ab, sobald er das Wirrwarr an Gängen betritt, besiegt den Minotaurus – der übrigens Ariadnes Halbbruder ist – und findet aus dem Labyrinth wieder heraus. Der Faden hat ihm geholfen, sich den richtigen Weg zu merken.
Rot wird der Faden erst, als man in der Seefahrt einen besonderen Diebstahl-Schutz erfindet. Vor vielen Hundert Jahren werden anscheinend desöfteren Seile und Taue von den Schiffen geklaut. So arbeiten ab dem 18. Jahrhundert die Engländer in die Seile der englischen Marine einen roten Faden hinein, um den Wiedererkennungswert zu erhöhen. Der farbige Faden läuft vom Anfang bis zum Ende der Seile durch, die nun als „Seile der königlichen Marine“ überall erkannt werden. Pech für Klaufüchse!
Goethe nutzt den britischen „Tau-Klau-Schutz“ wohl erstmals als sprachliches Bild in einem Roman. Ich glaube aber, dass die Redewendung schon viel länger im Umlauf ist, das aber vielleicht nur mündlich. Goethe macht den Ausdruck auf jeden Fall bekannt!
Was bringt der rote Faden im Storytelling?
- Alle Themen oder Ereignisse im Text werden kontinuierlich miteinander verbunden.
- Mit dem roten Faden schaffst du das Handlungsgerüst oder den Plot eines Textes.
- Es geht um Kohärenz: Der rote Faden hält einen Text zusammen.
- Die Leser verstehen besser, worauf du hinauswillst.
- Dein roter Faden macht deine Story unverwechselbar, denn du hast ihn gewoben!
- Der rote Faden kann ein Leitmotiv, ein Lied, ein Gedicht, eine Metapher, ein sprechendes Bild (…) sein und kann sich auch durch andere Werke ziehen: zum Beispiel durch eine Oper, ein Musikstück, durch Kunstwerke (Picassos „Blaue Phase“), eine Unternehmenstrategie, eine Rede, ein Architekturstil – und oft auch durch das eigene Leben. Überall spannt sich ein roter Faden als verbindendes Element.
Roter Faden oder Wollknäul?
Wenn sich etwas – ein Überthema, ein Bild, eine Redewendung … – wie ein roter Faden durch ein Buch, einen Film, einen Blogartikel, Vortrag oder Social-Media-Post zieht, dann können wir der Story besser folgen. Außerdem bringt ein roter Faden im Storytelling Spannung in einen Text, indem er uns von einem Punkt zum nächsten geleitet. Doch dazu müssen wir ihn erkennen.
Mein Tipp: Wähle nicht zuviele Themen. Und bilde kein Durcheinander mit angefangenen Punkten, die kreuz und quer laufen. Entscheide dich lieber für ein Kernthema, das du variierst. Denn daran können sich die Leserinnen und Leser (oder Zuhörer eines Vortrags) richtig gut entlang hangeln und bleiben aufmerksam. Auch hier kann man sich das Ganze wieder wie ein Seil oder einen Faden vorstellen aber bitte ohne Knoten-Wirrwarr.
Beispiele für Gute „rote Fäden“ in Stories:
- Im Film Interstellar ist es das Gedicht „Do not go gentle into that good night“ (Geh nicht gelassen in die gute Nacht) von Dylan Thomas. Es ist zugleich auch der Schlüssel zum Verständnis dieses Films. Einer meiner Lieblings Science-Fiction-Filme.
- Jeder Krimi! Nimm irgendeinen Krimi zur Hand. Hier passiert nichts ohne Grund. Ein bestimmter Dialog zu Beginn, eine Nebenhandlung, die Angewohnheit einer Figur, ein Landschaftsmerkmal … all das wird später wieder aufgegriffen und wichtig für die Story!
- Blogartikel, die sich wie aus einem Guss lesen. Mit gleitenden Übergängen von Punkt zu Punkt können wir die Inhalte gleich besser nachvollziehen.
Tipps für den roten Faden im Storytelling
Erstelle ein Grobkonzept
Überlege bevor du etwas schreibst oder einen Vortrag vorbereitest folgende Dinge: Was soll alles im Text enthalten sein? Wie soll der Text aufgebaut sein? Wie endest du (möglichst knallig)? Ob du dir ein Scribble zeichnest, eine Liste mit Stichpunkten machst oder ein Mindmap erstellst ist dabei egal. Wichtig ist, dass du dir die Struktur mit einem richtig guten roten Faden zum Text erarbeitest.
Sei konsequent!
Du hast mit einem Zitat oder sprachlichen Bild eingeleitet? Nun musst du den Faden unbedingt konsequent durchziehen. Sei streng zu dir! Mir fällt das Durchhalten auch nicht immer leicht. Es lohnt sich aber. Frage dich dazu: Was könnte in der Mitte vom Anfang aufgegriffen werden? Und wie bringe ich den roten Faden am Schluss noch einmal ins Spiel?
Beispiel: Wenn du mit dem Bild „XX ist wie das Schwimmen gegen den Strom …“ beginnst, bleib beim Wasserbild und wechsle nicht in andere sprachliche Bildwelten, wie Luft, Feuer oder Gummibär … 😉
Übertreibe es nicht!
Zuviel vom roten Faden schadet dem Storytelling aber auch! Wenn es bei Lesern und Publikum zu genervtem Augenrollen kommt, dann hast du es übertrieben.
Beispiel: Wenn du mit obigem Bild „XX ist wie das Schwimmen gegen den Strom“ in gefühlt jedem Satz Wasserwelten aufleben lässt, à la „wie ein Fisch im Wasser“ oder „an die Ruder, Leute“ oder „… dann plantschen wir im Glück…“ dann noch ein, „verlieren uns in den Tiefen des Ozeans“ und „reiten auf den Wellen des Erfolgs…“ anfügen – halt, STOPP! Das ist dann definitiv Zuviel des Guten und bringt das Gegenteil: Ein genervtes Stöhnen deines Publikums.
Als Lesende und Zuhörende wollen wir nicht mit Gewalt auf rote Fäden gestoßen werden. Wir wollen sie entdecken! Das Schöne an so einem (Leit-)faden ist ja gerade, dass er uns nur ganz sanft an die Hand nimmt. Der rote Faden im Storytelling muss also mit viel Feingefühl gewoben werden.
Ein verlorener roter Faden als Stilmittel
Ein besonderes Stilmittel, was ich persönlich sehr mag, ist der Stilbruch. Brich ab und zu die Regeln, ist nicht nur meine Empfehlung für unverwechselbare Texte, sondern allgemein im Business und im Leben. Beispiele:
- Eine Pause in einer Rede einlegen, als ob man den roten Faden verloren hätte. – Bringt Aufmerksamkeit!
- Die Story unterbrechen und dem Publikum oder den Lesern eine Frage stellen. Das geht im Roman genauso, wie „live“ am Lagerfeuer.
- (Anscheinend) keinen roten Faden anbieten. Im absurden Theater scheint es kein Handlungsgerüst oder Plot zu geben. Doch das täuscht. Stücke, wie Warten auf Godot, verweigern sich nur der herkömmlichen Interpretation. Doch selbst das ist nicht richtig: Das Warten an sich (und ganz viel mehr) zieht sich durch Samuel Beckets Meisterstück wie was? Richtig, wie ein roter Faden!
Storytelling gesucht?
Ich texte nicht nur. Ich erzähle auch mit leuchtend rotem Faden – passend zum Thema. Entweder erstellen wir zusammen das "Gerüst" oder ich übernehme das. Damit dein Business oder Event so sichtbar werden, wie es zu dir passt. – I tell, you feel!
Wow, Dankeschön für diesen Beitrag. Wenn ich das lese, dann weiß ich, dass ich bisher den roten Faden eher nachträglich eingebaut habe. Ich bin eine eher intuitive Schreiberin und damit mache ich mir offenbar mehr Arbeit, weil ich die Texte nach dem Schreiben „rund“ mache. Ich werde das mit der Planung mal probieren, ich kann mir vorstellen, dass ich dann nicht so viel kürzen muss.
Hi Sylvia,
es gibt zwei Typen von Autoren, Plotter und Pantser.
Plotter planen die Handlung voll durch, bevor sie mit dem Schreiben beginnen.
Pantser fällt die Story aka roter Faden erst während des Schreibens ein.
Als intuitive Schreiberin wirst du eine Pantser sein, was auch Vorteile hat.
Ich glaube, ich bin irgendwo dazwischen.
Ich könnte mal einen Blogartikel über Schreibtypen (mit Tipps für beide Extreme) schreiben. DANKE, du hast mich da auf eine Idee gebracht. 🙂